Trennung trotz Gewalt ausgeschlossen?!

oder

Warum Trennung oft keine Option ist

Opfer häuslicher Gewalt sind – innerlich wie äußerlich – oft mit der gleichen Fragestellung konfrontiert: Warum tust Du Dir das an? Warum verlässt Du ihn nicht? Warum hälst Du das aus? Für Außenstehende ist es schwer zu verstehen, warum die Betroffene sich nicht von ihrem Misshandler trennt. Schlimmer noch: Angehörigen und Freund*innen von Gewaltopfern fällt es im Zeitverlauf immer schwerer auszuhalten, dass die Betroffene den Täter nicht „einfach“ verlässt. Dies führt leider auch dazu, dass Freundschaften und Familienband brechen.

Auf die Frage gibt es viele Antworten, einige sind sehr spezifisch, andere beinahe universell. Dieser Text ist eine Sammlung von Antworten. Sie stammen von Frauen, die sich ebenfalls nicht trennen konnten, einige über mehrere Jahrzente. Bis sie es dennoch taten.

Dieser – lange – Text richtet sich an Frauen, die sich als in einer Misshandlungsbeziehung gefangen erleben. Auch wenn der Gewalttäter niemals zugeschlagen hat: im übertragenen Sinn wurden längst zu viele Knochen gebrochen; niemand kann mit zwei gebrochenen Beinen „einfach gehen“.

 

Gründe, die eine Frau davon abhalten können, ihren Misshandler zu verlassen – Übersicht

  • Fehlendes Wissen über psychische Gewalt / Gewalt wird nicht erkannt
  • Das Jekyll & Hyde Syndrom
  • Fehlendes Wissen über psychische Gewalt -> der Misshandler wird nicht erkannt
  • Ihr Umfeld kennt nur Dr. Jekyll, den Traumpartner
  • Außenwirkung: die perfekte Familie
  • Beziehungsmodell und Geschlechterrollen-Verständnis der Betroffenen
  • „Er schlägt mich nicht, also ist es keine Gewalt/ nicht so schlimm“
  • Warten auf den „richtigen“ Trennungsgrund
  • Folgen der Misshandlung
  • Nicht-Zugänglichkeit von und/oder fehlendes Wissen über Hilfsangebote und/oder Auswegsmöglichkeiten
  • „Aber er liebt mich doch!“
  • Fehlendes Wissen über psychische Misshandlung bei anderen Menschen
  • Drohungen des Misshandlers
    • Suiziddrohungen des „Partners“
  • Angst vor der Reaktion nach der Trennung
    • „mir glaubt niemand“ – Rufmord ist bedrohlich
  • Die Kinder
    • Schwangerschaft und Geburt
    • Den Kindern nicht den Vater nehmen wollen – Kinder brauchen beide Eltern
    • Die Kinder sollen ihr Umfeld und ihren Lebensstandard nicht verlieren
    • Angst, die Kinder zu verlieren
    • Angst um die Kinder
  • finanzielle Abhängigkeit, „kein Geld“
    • Er verwaltet das Geld. Drohung mit Finanzmacht.
    • Arbeitsunfähigkeit durch Misshandlung
    • Lähmung und Handlungsunfähigkeit, fehlendes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit
    • Gemeinsamer Besitz, gemeinsame Verbindlichkeiten
    • Gemeinsames Unternehmen, Betroffene ist im gemeinsamen Betrieb beschäftigt
    • Fazit zur finanziellen Bindung
  • “Ich kann nicht ohne ihn leben“
    • Emotionale Abhängigkeit vom Misshandler
    • Selbstwert vom Partner abhängig (gemacht/geworden)
    • Angst, ihn zu verlieren (den Traummann zu verlieren, Dr. Jekyll zu verlieren
    • Angst vor Alleinsein/“Torschlusspanik“
    • “Ich kann ihn durch und mit meiner Liebe retten“
    • Angst vor nicht auszuhaltendem Schmerz/Trauer
    • Angst davor, ihn endgültig und/oder an eine Next zu verlieren
    • weitere mögliche Grundhaltungen der Betroffenen[list]
    • Wahrheit widerspricht dem Selbstbild
    • “my word is my bond“ – Ich stehe zu meinen Entscheidungen und gebe niemals kampflos auf.
    • Egoismus ist schändlich
    • Trennung ist ein gravierender Schritt mit Konsequenzen
  • Weitere „Ausreden“
    • Hoffnung, irgendwie mit ihm und gleichzeitig ohne ihn leben zu können
    • Aufschieben der Trennung, Warten auf „den einen Grund“
    • Glaube an/ Hoffnung auf eigene Veränderung und Wachstum innerhalb der „Beziehung“
  • Nachwort an Betroffene

Fehlendes Wissen über psychische Gewalt / Gewalt wird nicht erkannt

Psychische Misshandlung hinterlässt keine sichtbaren Spuren. Sie ist oft nicht klar erkennbar. Dies liegt sowohl an den verwendeten Mitteln, als auch an den Folgen.

„I did not know I was being abused“ – Ich wusste nicht, dass ich misshandelt wurde. Leslie Morgan Steiner, erfolgreiche Geschäftsfrau mit Harvard Abschluss lebte in erster Ehe mit einem Mann, der sie zwei Mal wöchentlich körperlich misshandelte. Ihre erste Antwort auf die Frage, warum sie nicht ging: sie wusste nicht, dass sie misshandelt wird.

 

Jekyll/Hyde I: erschwert Erkennbarkeit

Ein wesentliches typisches Strukturmerkmal psychischer Misshandlung ist das sog. Jekyll-und-Hyde Syndrom. Der Misshandler hat zwei Gesichter: das eine ist der liebenswürdige Partner (oft nahezu ein Traumprinz), das andere der abwertende, destruktive Misshandler. Diese Janusköpfigkeit ist schwierig zu begreifen, oft nahezu unfassbar. Jekyll ist der Traumprinz, Hyde der Misshandler. Zwei völlig konträre Personen in einem Mann. Es ist für die Betroffene oft nicht „unter einen Hut zu bringen“, dass sie augenscheinlich mit zwei Persönlichkeiten zu tun hat. Hypes Verhalten ist nicht mit dem zu vereinbaren, was sie von und mit Jekyll erlebt hat. Insofern begreift die Betroffene lange nicht, dass ihr „Partner“ sie misshandelt, Jekyll würde so etwas nie tun.

 

Fehlendes Wissen über psychische Gewalt -> der Misshandler wird nicht erkannt

Die Betroffene ist zwar verletzt und verwirrt, erkennt aber nicht, dass ihr Gewalt angetan wird. Ihr fehlt das Wissen um psychische Misshandlung. Daher ist es ihr auch nicht möglich, den Misshandler als solchen zu erkennen. Mr. Hyde taucht zwar immer häufiger auf, sie hält sich aber an Dr. Jekyll fest. Sie kann noch nicht erkennen, dass Dr. Jekyll die Illusion ist. Ihr fehlen Kenntnisse über „typische Misshandler“. Sie erlebt zwar „irgendwie“ dass ihr „Partner“ sie massiv verletzt, sie erkennt aber nicht, dass ein System hinter den Verletzungen steckt. Sie geht weiterhin davon aus, dass sie mit Dr. Jekyll zusammen ist, dass dieser sie liebt und dass es individuelle Gründe (meist in ihrer Person oder ihrem Verhalten) geben muss, die dazu führen, dass ihr geliebter Dr. Jekyll zwischendurch „plötzlich“ so „anders“ ist.

Für viele Betroffene war es lange überhaupt nicht vorstellbar, dass es Männer gibt, die „so ticken“ wie die auf diesen Seiten beschriebenen Misshandler. Es ist für sie unvorstellbar, dass ein Mann zwei Persönlichkeiten zu haben scheint und dass eine dieser Persönlichkeiten sie dominieren, beherrschen und zerstören will. Es ist für sie unvorstellbar, dass es überhaupt Menschen gibt, die ihre Partnerin mit psychischer Misshandlung zerstören. Es ist für sie unvorstellbar, dass ein Mann, der so „normal“ (bzw. oft ja auch ideal) wirkt, gleichzeitig so abgrundtief feindselig bis bösartig sein kann.

 

Ihr Umfeld kennt nur Dr. Jekyll, den Traumpartner

Da die Menschen in ihrem, seinen und dem gemeinsamen Umfeld meist nur Dr. Jekyll kennen und dieser seine Partnerin liebevoll behandelt (oft wirken die beiden wie „das Traumpaar schlechthin“), können diese sich nicht vorstellen, dass Jekyll sich binnen Sekunden in Mr. Hyde wandeln kann. Die meisten Misshandler sind wahre Experten darin, der Außenwelt den charmanten, hilfsbereiten Jekyll vorzuspielen.

Erzählt die Betroffene anfangs von verwirrenden bis verletzenden Interaktionen mit Mr. Hyde wird das Umfeld nachvollziehbarer Weise mit Unverständnis reagieren: sie können es sich nicht vorstellen, dass der liebenswerte, um das Wohl seiner Partnerin besorgte Dr. Hyde zu derartigem fähig ist. Bestimmt hat die Betroffene „etwas missverstanden. Oder fehlinterpretiert. Oder es gab ein Missverständnis zwischen den beiden. Vielleicht ist sie auch ein bisschen hysterisch“.

Die Folge: selbst wenn die Betroffene von verletzenden Interaktionen berichtet, kommt niemand auf die Idee, dass sie von Mr. Hyde misshandelt wird. Dies erschwert es der Betroffenen, die Misshandlungen als solche zu erkennen. Zudem liebt sie Dr. Jekyll innig.

 

Außenwirkung: die perfekte Familie

Nicht nur Dr. Jekyll spielt seine Rolle perfekt und genießt überall hohe Wertschätzung, oft macht das gesamte Familiensystem (Misshandler, Betroffene, Kinder) den Eindruck der „perfekten Familie“. Das „Paar“ erfährt hierdurch Aufwertung. Vielen Betroffenen ist es sehr wichtig, das Bild dieser perfekten Familie zu erhalten, sowohl innerlich als auch äußerlich. Damit es erhalten werden kann, wird die Realität (Misshandlung durch den „Partner“, eigener Schmerz) verdrängt um die Illusion nicht zu gefährden.

Je grausamer die Realität für die Betroffene wird, desto stärker hält diese an der Illusion fest. Die Illusion wirkt als kurzfristiges Gegengift und hilft, die Realität der Misshandlung zu verdrängen.

 

Beziehungsmodell und Geschlechterrollen-Verständnis der Betroffenen

Einige Betroffenen fällt es auch deswegen schwer, das Verhalten des „Partners“ als Misshandlung zu erkennen, weil sie a) keine „gesunden“ Beziehungsvorbilder haben, b) ein misogynes Geschlechterrollen-Verständnis haben oder c) bereits selber Misshandlungs-Erfahrungen gemacht haben.

Viele Frauen, die von einem früheren „Partner“ körperliche Gewalt erfahren haben, kommen quasi „vom Regen in die Traufe“: Der neue „Partner“ schlägt zwar nicht physisch zu, misshandelt aber psychisch verbal. In diesem Fall wird die psychische Misshandlung nicht erkannt: „Gewalt ist doch erst, wenn er zuschlägt“.

Einige Betroffene sind in Familien aufgewachsen, in der psychische Misshandlung eines Elternteils oder der Kinder durch ein Elternteil stattfand. Handelt es sich bei der aktuellen Misshandlungsbeziehung um die erste „echte Partnerschaft“ der Betroffenen, wird das destruktive Verhalten des „Partners“ nicht als Gewalt erkannt.

Einfluss von Geschlechterrollen: Obwohl die Emanzipation in den letzten 30 Jahren große Fortschritte gemacht hat, wurden viele Frauen noch mit „veralteten“ Geschlechterrollen sozialisiert. Diese können dazu beitragen, dass es „akzeptiert“ wird, dass Frauen weniger Rechte haben, sich Männer anders durchsetzen (dürfen), o.ä. Manche Betroffene denken „Männer sind eben so“.

 

„Er schlägt mich nicht, also ist es keine Gewalt/ nicht so schlimm“

„Gewalt ist erst, wenn geschlagen wird“. – und so lange er nur verbal zuschlägt, wird die Misshandlung/Gewalt nicht als solche erkannt. „Schlimme“ Beziehungen sind die, die im Nachmittagsprogramm in Talkshows gezeigt werden. Solange die „Partnerschaft“ der Betroffenen nicht derartigen Klischees entspricht, wird die Gewalt nicht erkannt.

 

Warten auf den „richtigen“ Trennungsgrund

Oft geben Betroffene an, dass sie sich trennen würden, wenn …

  • er zuschlägt
  • er die Kinder schlägt
  • er sie mit einer anderen Frau betrügt


Viele Misshandler wissen um derartige „Trennungskriterien“ und sind deshalb darauf bedacht, ihr nicht den „finalen“ Grund zu liefern.

 

Folgen der Misshandlung

Psychische Misshandlung hat massive und tiefgreifende Folgen, auf die Wahrnehmung, das Denken und Denkvermögen, das Selbstbild, den Selbstwert und die grundsätzliche Handlungsfähigkeit der Betroffenen.

Wichtige Informationen dazu finden Sie in folgenden Bereichen: Gewalt hat viele Gesichter, Leben mit einem Gewalttäter und Folgen von häuslicher Gewalt.

Beinahe alle Folgen psychischer Misshandlung tragen dazu bei, dass die Betroffene die Gewalt des Täters nicht als solche identifizieren kann, oder zu geschwächt/gelähmt ist, als dass eine Trennung als „bewältigbar“ erscheint.

Das Suchen einer neuen Wohnung, Organisation eines Umzugs, Kisten-packen, Möbel anschaffen – all dies scheint der gelähmten Betroffenen unmöglich.

 

Nicht-Zugänglichkeit von und/oder fehlendes Wissen über Hilfsangebote und/oder Auswegsmöglichkeiten

Viele Betroffene sind der Überzeugung, dass Frauenhäuser ausschließlich ein Ort für geprügelte Unterschicht-Frauen seien. Sie sind nicht über andere Hilfsangebote (z.B. Frauennotrufe, Frauenberatungsstellen) informiert und/oder halten ihre Situation für „nicht schlimm genug“.

Betroffene, die in ländlicheren Gegenden leben, wohlmöglich mit zu betreuenden Kindern, haben häufig auch nicht die Möglichkeit, unentdeckt „mal eben“ eine Frauenberatungsstelle aufzusuchen.

 

„Aber er liebt mich doch!“

Die „berühmten drei kleinen Worte“ sind für viele Betroffene die Droge, die sich an den Täter als einigen Dealer bindet. Solange er diese Worte noch ausspricht, hält sie sich an ihnen fest und hofft auf Veränderung.

Kaum ein Misshandler wird diesbezüglich ehrlich sein.

„Ich liebe Dich“ ist nichts als ein Lippenbekenntnis, wenn diese nicht durch Taten und liebevolles Verhalten bestätigt werden.

 

Fehlendes Wissen über psychische Misshandlung bei anderen Menschen

Ebenso wie der Betroffenen Kenntnisse über die Existenz, die Strukturen und Mechanismen psychischer Misshandlung fehlen, sind diese auch im Umfeld meist nicht vorhanden.

In „normalen“ Beziehungen ist es eben „normal“, dass Schwierigkeiten auftreten und dass an Schwierigkeiten tatsächlich „beide beteiligt“ sind. Dass das Verhalten des Misshandlers nicht auf „normale Beziehungsprobleme“ zurückzuführen ist, sondern vielmehr Zerstörung mit System ist, wird vom Umfeld nachvollziehbarerweise nicht erkannt. Daher wird die Betroffene auch lange nicht bekräftigt, ihren „Partner“ – Dr. Jekyll – zu verlassen.

Selbst Paartherapeutinnen und Eheberaterinnen erkennen psychische Misshandlung oft nicht, da oft ein systemischer Ansatz verfolgt wird, der – vereinfacht ausgedrückt – darauf beruht, dass Beziehungsschwierigkeiten von beiden Partnern verursacht und zu verantworten sind.

 

Drohungen des Misshandlers

Viele Misshandler sprechen unverhohlene Drohungen aus, was sie der Betroffenen antun werden, wenn sie ihn verlassen werden. Dazu gehören oft u.a.: „Du kannst gehen, aber meine Kinder bleiben hier“, „Ich werde dafür sorgen, dass Du die Kinder nie wiedersiehst“, „Ich setze mich mit den Kindern ins Ausland ab“, „Ich mache Dich fertig“, „Du wirst keinen Cent von mir erhalten“, „Ich werde dafür sorgen, dass Du alles verlierst“, „Eher bringe ich Dich um“, „Eher bringe ich uns alle um“, „Niemand wird Dir glauben, alle wissen jetzt schon, was für ein psychisches Wrack Du bist!“.

Die Androhung von Suizid

Etliche Misshandler halten Betroffene dadurch in der „Partnerschaft“ indem sie nicht nur behaupten, ohne die Partnerin in nicht leben zu können, sondern ihrem Leben ggf. gezielt ein Ende zu setzen. Folge: Die Betroffene trennt sich nicht, weil sie nicht die aufgezwungene Verantwortung für den angedrohten Freitod ihres „Partners“ tragen will. Oft werden Suiziddrohungen nicht offen formuliert, vielmehr operiert der Misshandler mit Andeutungen, z.B. indem er wiederholt davon erzählt, beim Autofahren den Wunsch verspürt zu haben, gegen einen Baum zu rasen, oder auf Brücken/ in hohen Gebäuden den Wunsch verspüre, zu springen. Insbesondere Betroffene mit gemeinsamen Kindern lassen sich durch diese Taktik über Jahre in einer Misshandlungsbeziehung halten, weil sie Angst haben „Schuld zu sein“ am Freitod ihres „Partners“.

 

Angst vor der Reaktion nach der Trennung

Die Betroffene hat erlebt, wozu der Misshandler fähig ist. Viele Betroffene haben Angst, dass er „komplett ausrastet“, wenn sie ihn verlässt. In der Tagespresse finden sich regelmäßig Berichte über erweiterte Suizide verlassener Ehemänner, meist mit Gewalthintergrund.

Dem Misshandler stehen meist viele Möglichkeiten zur Verfügung, die Betroffene nach der Trennung zu terrorisieren und zu quälen. Viele Misshandler stalken ihre ehemaligen Opfer.

Häufig werden nach der Trennung auch intime Bilder und Filme der Betroffenen verbreitet und an Vorgesetze und Kollegen geschickt.

„mir glaubt niemand“ – Rufmord ist bedrohlich

Gezielte Rufmord-Kampagnen des Misshandlers sind leider eher Regel als Ausnahme. Meist beginnen diese bereits während der „Partnerschaft“: Der Misshandler verbreitet zunehmend im Umfeld, dass die Partnerin psychisch labil, hysterisch, krankhaft eifersüchtig, u.a. sei und sorgt so dafür, dass er als „Opfer“ wahrgenommen wird.

Es ist verständlich, dass sich das Umfeld durch derartige Strategien in die Irre führen lässt und ihm die Rolle des besorgten und sich aufopfernden Partners abnimmt. Viele Betroffene bauen im Verlauf der „Partnerschaft“ merklich ab. Sie werden künstlich, nervös, fahrig, labil.

Die Betroffene, meist bereits von ihrem eigenen alten Freundeskreis und sozialem Netz entfremdet, muss zu Recht befürchten, nach der Trennung keinerlei Unterstützung aus dem gemeinsamen Umfeld zu erhalten, da dieses sich aufgrund der „Vorarbeit“ des Misshandlers eher auf dessen Seite stellen wird.

 

Die Kinder

Schwangerschaft und Geburt

In vielen Misshandlungsbeziehungen kommt es ab Feststellung der Schwangerschaft zu einem Anstieg der Misshandlungen. Grund: Die Betroffene ist gebunden, der Misshandler ist sich der „Ausweglosigkeit“ bewusst: sie kann ihn vorerst nicht verlassen.

Während der Schwangerschaft und nach der Geburt ist die Betroffene in hohem Maß auf Unterstützung und Fürsorge des Partners angewiesen. Eine Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes kann auch für „normale“ Partnerschaften eine Belastungsprobe darstellen.

Viele Betroffene erklären sich das „unerklärliche“/wütende/frustrierte Verhalten ihres „Partners“ durch die Schwangerschaft bzw. die „Nebenwirkungen der Schwangerschaft“.

Den Kindern nicht den Vater nehmen wollen – Kinder brauchen beide Eltern

Viele Betroffene verlassen den Misshandler nicht, weil sie ihren Kindern nicht den Vater nehmen und die Familie aus Rücksicht auf die Kinder nicht auseinanderreißen wollen. Es ist normal, dass Kinder ihren Vater lieben und an diesem hängen, selbst wenn sie Zeugen von Misshandlung werden.

Die Kinder sollen ihr Umfeld und ihren Lebensstandard nicht verlieren

Viele Betroffene sind nicht (mehr) berufstätig. Eine Trennung würde zu erheblichen Einschnitten führen, der bisherige Lebensstandard muss aufgegeben werden. Dies betrifft auch die Kinder: Auszug aus dem Haus mit Garten in eine (viel) kleinere Wohnung. Wechsel auf eine andere Schule. Herausreißen aus dem sozialen Umfeld (Freundeskreis). Kostspielige Hobbies der Kinder (Reitunterricht, Ballet, Musikunterricht) können nicht mehr finanziert werden.

Angst, die Kinder zu verlieren

Viele Misshandler drohen unverhohlen damit, dass die Betroffene im Falle einer Trennung die Kinder verlieren wird. Oft wird vom Misshandler entsprechende Vorarbeit geleistet insofern als dass die Kinder gezielt auf die Seite des Vaters gezogen werden: Schlecht-machen der Mutter, Großzügigkeit (Geschenke), „alles erlauben“, Lügen über die Mutter erzählen, sich selber als Opfer hinstellen.

Insofern ist die Angst der Betroffenen, im Falle einer Trennung eines oder mehrere der gemeinsamen Kinder zu verlieren aus Sicht der Betroffenen oft berechtigt.

Angst um die Kinder

Betroffene haben nicht nur Angst, die Kinder zu verlieren, sie haben auch berechtigte Angst um die Kinder. Sie haben den Misshandler erlebt, sie wissen, wozu er fähig ist. Daher befürchten sie, dass er seine Misshandlungen (weiter) auf die Kinder ausdehnen wird. Sie befürchten, dass er seinen Hass gegen die Kinder richten wird, wenn sie nicht mehr als Zielscheibe zur Verfügung steht.

Daher ziehen viele Betroffene es vor, weiterhin die Misshandlungen ihres „Partners“ zu ertragen, als zu riskieren, dass die Kinder dem Vater ungeschützt ausgeliefert sind.

Zudem wird auch nach einer Trennung Kontakt mit dem Misshandler in den meisten Fällen unumgänglich sein, da er als Vater ein Recht auf Umgang mit seinen Kindern hat. Misshandelte Mütter haben Angst, dass er den Kindern während der Besuchswochenenden etwas antut.

 

Finanzielle Bindung an den Misshandler

Viele Betroffene sind zu finanziell vollkommen abhängig vom Misshandler.

Häufig haben Betroffene ihre Berufstätigkeit (auch auf Drängen des „Partners“) aufgegeben, um sich ausschließlich um Haushalt und Familie zu kümmern.

Oft wird Betroffenen, die sich nicht sofort trennen vorgeworfen, dass sie die Trennung hinauszögerten, weil sie ihren gehobenen und durch den „Partner“ erwirtschafteten Lebensstandard nicht aufgeben wollten.

Eine von Partnerschaftsgewalt betroffene Frau verliert durch die Misshandlungen sukzessive nahezu alles. Es sollte nachvollziehbar sein, dass es diesen Frauen schwer fällt, nun auch noch auf materielle Sicherheit, augenscheinlich angenehme Lebensumstände, gesellschaftlichen Status, etc. zu verzichten. Viele Betroffene haben viel Zeit, Energie und Liebe in den Aufbau des gemeinsamen Zuhauses investiert. Dieses im Fall einer Trennung auch zu verlieren ist beängstigend und keine leichtfertige zu treffende Entscheidung.

Betroffene haben zu Recht Angst vor einem kompletten finanziellen Absturz und einem Leben als Hartz IV Empfängerin. Die massiven finanziellen Einschnitte betreffen zudem meist nicht nur die Betroffene, sondern auch deren Kinder.

Er verwaltet das Geld, Bedrohung mit kompletter Mittellosigkeit

In vielen Misshandlungsbeziehungen verwaltet der „Partner“ die gemeinsamen Mittel. Da ihre Leistung (Kinderbetreuung, Besorgung des Haushalts, Pflege des Freundeskreises) keine Erwerbsarbeit ist, geht er davon aus, dass das Familieneinkommen „sein“ Geld ist.

Viele Misshandler drohen damit, im Falle einer Trennung „keinen Cent Unterhalt“ zu zahlen. Sofern der Misshandler selbständiger Unternehmer ist, wird er Mittel und Wege finden, sein Einkommen zu verschleiern.

Ist die Betroffene selber berufstätig drohen viele Misshandler damit, die Partnerin auf Unterhalt zu verklagen.

Arbeitsunfähigkeit durch Misshandlung

Viele Betroffene erkranken durch die Misshandlung an Depressionen, Angststörungen, psychosomatischen Erkrankungen und Burn-Out. Es ist ihnen kurz- und mittelfristig nicht möglich, eine Arbeitsstelle zu finden und eigenes Geld zu verdienen.

Lähmung und Handlungsunfähigkeit, fehlendes Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit

Es gehört zu den typischen Folgen von psychischer Misshandlung, dass Betroffene schier gelähmt und handlungsunfähig sind. Zudem wird der Glaube in die eigene Leistungsfähigkeit durch die Misshandlung systematisch untergraben.

Gemeinsamer Besitz, gemeinsame Verbindlichkeiten

Ein weiteres Trennungshindernis ist das Vorhandensein von gemeinsamen Immobilien und den dazugehörigen Finanzierungsplänen. Betroffene befürchten, ihre investierten Mittel zu verlieren.

Gemeinsames Unternehmen, Betroffene ist im gemeinsamen Betrieb beschäftigt

Manche Betroffene arbeiten im gemeinsamen Unternehmen mit, oft im Rahmen eines „Mini-Jobs“, da dies „steuerlich günstiger“ ist, selbst wenn die tatsächlich geleistete Arbeit einer Vollzeitstelle entspricht. Im Fall einer Trennung verliert die Betroffene nicht nur ihre Beschäftigung, sondern auch die Rechte an dem oft gemeinsam aufgebauten Betrieb.

Fazit zur finanziellen Bindung

Kurzum: die verschiedenen finanziellen Hindernisse und die Angst der Betroffenen, den eigenen Lebensunterhalt nicht finanzieren zu können hält viele Betroffene über Jahre davon ab, einen Misshandler zu verlassen.

 

“Ich kann nicht ohne ihn leben“ – Emotionale Abhängigkeit vom Misshandler

Viele Betroffene erkennen im Rahmen der Aufarbeitung der Misshandlungsbeziehung, dass ein wesentlicher Grund für die lange Hinauszögerung der Trennung eine intensive emotionale Abhängigkeit vom Misshandler war. Häufige in diesem Rahmen fallende Begriffe: Beziehungssucht und „dependente Struktur“.

Wir halten es für sinnvoll, zu einem späteren Zeitpunkt ggf. die eigene Persönlichkeit im Rahmen einer Psychotherapie dahingehend zu durchleuchten, ob eventuell dependente Strukturen in der Betroffenen angelegt sind oder ob sie an Formen von „Beziehungssucht“ leidet. Sollte dies der Fall sein, raten wir jeder Betroffenen dringend davon ab zu versuchen, derartige oder andere eigene Dispositionen im Rahmen der Misshandlungsbeziehung lösen zu können.

Selbstwert vom Partner abhängig (gemacht/geworden)

Eine auffallende Dynamik in Misshandlungsbeziehungen ist, dass der Täter den Selbstwert des Opfers mittels verschiedener Stilmittel psychischer gezielt und systematisch untergräbt.

Dadurch, dass er sie entwertet, wird er zum „Einzigen“, der die Entwertung „zurücknehmen“ kann. Folge: die Betroffene ist fühlt sich darauf angewiesen, dass der Misshandler ihr ihren Selbstwert, den er ihr genommen hat, wieder „zurückgibt“.

Hinzu kommt, dass ihr gleichzeitig durch die Misshandlung vermittelt wird, sie sei nicht liebenswert. Verfestigt sich diese wiederholte – im Subtext kommunizierte – Botschaft im Selbstbild der Betroffenen, kommt sie zur Überzeugung, dass sie nicht liebenswert sei. Insofern wird der Misshandler tatsächlich zunehmend zur einzigen Quelle, aus der ihr Selbstwert wiederhergestellt werden könnte.

Angst, Dr. Jekyll zu verlieren

Die Betroffene hat sich nicht in Mr. Hyde verliebt, sondern in Dr. Jekyll. Trennt sie sich, führte dieses zwar zur Befreiung von dem quälenden Mr. Hyde, sie verlöre aber auch die Chance auf eine Wiedervereinigung mit dem geliebten Dr. Jekyll, dem Traumprinzen und den Träger ihrer Sehnsüchte und Wünsche.

Angst vor Alleinsein/“Torschlusspanik“

„Du wirst nie wieder einen Mann wie mich finden“.

„Wer soll eine wie Dich schon wollen“

Viele Betroffene befürchten, – auch wegen der Misshandlungsfolgen die ihre zunehmenden Spuren hinterlassen haben – nie wieder einen Partner zu finden.

Insbesondere keinen Partner, mit sie eine positive Intensität erleben wie in dem typischen ultimativen Honeymoon mit Dr. Jekyll.

 

“Ich kann ihn durch und mit meiner Liebe retten“

„Du bist die Einzige, die mich sieht/versteht.“

„Mit wem sollte ich es schaffen, mich zu verändern, wenn nicht mit Dir.“

„Ich will mich doch ändern, aber ich schaffe es nicht ohne Deine Hilfe.“

„Gib mir noch eine Chance zu beweisen, dass ich es ernst meine“.

Viele Betroffene halten sich aufgrund einer ungesundenen Rollenübernahme selber in der „Partnerschaft“: sie glauben, ihm helfen, ihn retten zu können, wenn sie noch ein bisschen länger warten, ein bisschen mehr Geduld mit ihm haben.

Dies wird insbesondere dadurch unterstützt, dass beinahe jeder Täter in seiner Kindheit irgendeine Form der Traumatisierung erfahren hat. [Oft trifft dies auch auf die betroffenen Frauen selber zu: ein weiterer Grund für die angenommene „Seelenverwandtschaft“]

 

Angst vor nicht auszuhaltendem Schmerz/Trauer

„Ich sterbe, wenn ich ohne ihn leben muss“.

„Lieber lasse ich mich so behandeln, als ihn ganz zu verlieren“

„Ich kann kaum atmen, wenn er nicht bei mir ist“.

Psychische Misshandlung basiert nicht ausschließlich auf eindeutiger Gewalt und sadistischer Quälerei. Misshandlungsbeziehungen meist werden zusammengehalten von einer zunehmenden Abhängigkeit und Verlustangst, die sich in der Überzeugung, „nicht ohne ihn leben zu können“ manifestiert.

Angst davor, ihn mit einer Anderen zu wissen

Eine Trennung ist endgültig, bzw. sollte es sein.

Viele Betroffene haben unaushaltbare Angst, dass er sich schnell eine sog. Next sucht. Und dass diese Frau dann all das bekommt, was sie anfangs auch bekamen, wonach sie sich in der Folgezeit immer zurücksehnten, wofür sie die Misshandlungen aushielten in der Hoffnung, es könne wieder so werden, wie es anfangs war.

Die Vorstellung, ihren geliebten Dr. Jekyll mit einer anderen Frau zu erleben ist furchterregend, bedrückend, lähmend – und hält viele Betroffene von einer Trennung ab. Sollte dies auf Dich zutreffen, empfehlen wir Dir die Lektüre dieses Briefs einer ehemaligen Betroffenen an ihre „Next“.

 

Zusätzliche mögliche Grundhaltungen der Betroffenen, die eine Trennung hinauszögern/verhindern

Wahrheit widerspricht dem Selbstbild

Viele Betroffene weigern sich, sich als „Opfer“ zu sehen, da dies nicht mit ihrem Selbstbild einer starken, souveränen und kompetenten Frau vereinbar ist.

Viele Betroffene schämen sich dafür, schlecht behandelt zu werden, sich schlecht behandeln zu lassen und können somit die Misshandlung weder vor sich selbst anerkennen und schon gar nicht anderen Menschen gegenüber „zugeben“. Sie schämen sich, offenbar „unfähig“ zu sein, eine „normale“ Beziehung zu führen und übernehmen die volle Verantwortung für die Misshandlungen durch den „Partner“.

“my word is my bond“ – Ich stehe zu meinen Entscheidungen und gebe niemals kampflos auf.

Die Integritätsfalle: Einige Betroffene sehen sich an ihre einmal getroffene Entscheidung für diesen einen Mann gebunden. Kampfloses Aufgeben untersagen sich diese Frauen.

Eine Betroffene benutzte in diesem Zusammenhang den Begriff „Trümmerfrauenmentalität“ und den damit verbundenen Selbstanspruch erhöhter Belastbarkeit

Egoismus ist schändlich

Viele Frauen sind noch nach der Vorgabe sozialisiert worden, dass eine „gute“ Frau ihre eigenen Bedürfnisse hinter die Bedürfnisse ihres Partners und ihrer Kinder zu stellen habe.

 

Trennung ist ein gravierender Schritt mit Konsequenzen

Eine Trennung bzw. eine Scheidung ist ein gravierender Schritt. Oft wird der Betroffenen vom Misshandler vermittelt, dass sie jegliche Konsequenzen – derer werden idR viele androht – alleine zu verantworten und zu tragen habe.

 

Weitere Gründe. – Ausreden. – Hindernisse. Hürden

Hoffnung, irgendwie mit ihm und gleichzeitig ohne ihn leben zu können

Insbesondere, wenn die sonstigen Lebensumstände „stimmen“ oder aber unabänderlich erscheinen, – v.a. wenn Kinder beteiligt sind, trennen viele Betroffene sich nicht, weil sie hoffen, sich irgendwie mit dem „Partner“ engagieren zu können, quasi in einer Wohngemeinschaft zu leben.

Aufschieben der Trennung, Warten auf „den einen Grund“

Viele Betroffene geben an, dass sie sich trennen würden, wenn ein bestimmtes Verhalten des „Partners“ eintritt, z.B. betrogen-werden, Ausweitung der Gewalt auf die gemeinsamen Kinder, körperliche Gewalt. Der Misshandler ist sich oft dieser finalen Grenze bewusst, – und wird sie demzufolge nicht übertreten.

Glaube an/ Hoffnung auf eigene Veränderung und Wachstum innerhalb der „Beziehung“

Manche Betroffene halten ihre „Beziehungsschwierigkeiten“ für ein Symptom einer eigenen „problematischen Struktur“. Leider wird derartiges auch oft von unwissenden Psychotherapeutinnen vermittelt und/oder die Betroffene meint, dies aus den Aussagen einer Psychotherapeutin und/oder Ärztin hinauszuhören.

Hat die Betroffene sowieso Angst vor einer Trennung ist es an dieser Stelle verlockend zu der Überzeugung zu greifen, dass sie selber „das eigentliche Problem“ sei, dieses Problem nicht durch eine Trennung gelöst würde und es in ihrer Verantwortung läge und ihre Pflicht sei, ihre „Probleme“ auch innerhalb der „Partnerschaft“ zu bewältigen.

 

Nachwort

Liebe Leserin,

Vielleicht hast Du einige „Deiner“ Gründe wiedererkannt, Dich nicht zu trennen und/oder den Eindruck zu haben, Dich nicht trennen zu können.

Dieser Text ist keine „Literaturzusammenfassung“, sondern eine Auswertung von Beiträgen, die Frauen im Forum verfasst haben, als wir die Frage stellten, was hielt/hält ab vom Trennen-Können. Es sind Antworten von Frauen, die sich getrennt haben, obwohl es zunächst unmöglich schien. Viele von Ihnen sind den Weg gemeinsam gegangen, bzw. begleitet von anderen Frauen aus dem Forum.

Unsere Intention zur Veröffentlichung dieses kollektiven Wissens ist nicht, Dich und andere Betroffene mit der vermeintlichen Auswegslosigkeit Deiner/Eurer Lage zu konfrontieren und Dich/Euch in dem „es geht einfach nicht“ zu bestätigen. Unsere Intention ist aufzuzeigen, dass die Trennung trotz scheinbar unüberwindbarer Hindernisse möglich ist.

Solidarische Grüße,
Kerstin – stellvertretend für die re-empowerment Frauen