Häusliche Gewalt: nach dem Leiden folgt oft die Psychiatrie

—- AUS AKTUELLEM ANLASS AKTUALISIERT —-

Wenn eine von häuslicher Gewalt betroffene Frau sich in stationäre Behandlung, meist in Psychsomatischen Kliniken, teilweise aber auch in die Psychiatrie, begibt hat das immer ein bisschen was von Russischem Roulette. Mit dem Unterschied, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Ausgangs von Waffe vs. Schläfe sehr viel höher ist: Es gibt durchaus einige psychosomatische Kliniken und Psychiatrien die von Betroffenen als lebensrettend beschrieben werden. Im Zusammenhang mit „stationärem Aufenthalt“ taucht dennoch zu oft das Wort „Retraumatisierung“ auf. Dazwischen gibt es noch zahlreiche Schattierungen von „gut gemeint“ bis „nix gemacht, nix gebracht“.

Dass das Thema häusliche Gewalt gerade im Bereich der stationären Intervention in der Psychiatrie einen Boost auf den Prioritätenlisten bekommen sollte, zeigt die neue Studie von Prof. Dr. phil. E. Nyberg: Häusliche Gewalt bei Frauen einer Kriseninterventionspopulation – Formen der Gewalt und Risikofaktoren.

 

Häusliche Gewalt endet oft tödlich. Oder in der Psychiatrie

Häusliche Gewalt endet oft tödlich. Oder in der Psychiatrie.
Bild: Subbotina „Scream“ | depositphotos.com

Konzentrat: Ausmaß der Viktimisierung durch häusliche Gewalt bei Psychiatrie-Patientinnen

WAS? HINTERGRUND UND FRAGESTELLUNG

Nicht neu: Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Opfer leiden unter gesundheitlichen und psychischen Folgen. Terra incognita: Häusliche Gewalt und Psychiatrie. Nun nicht mehr.

 

Definition: häusliche Gewalt

Androhung oder Ausübung von physischer, psychischer und/oder emotionaler Gewalt, d. h. jede Form von Zwangsanwendung gegenüber einer anderen Person mit der Absicht, dieser Schaden zuzufügen oder Macht und Kontrolle über sie auszuüben. Dabei stammt der Täter aus dem „häuslichen Umfeld“ des Opfers: Partner, Ehemann, ehemaliger Partner, Familienangehöriger, Freund oder Bekannter. Häusliche Gewalt benennt in der Regel kein einmaliges Gewaltereignis, sondern ein komplexes Misshandlungssystem, das körperliche, psychische und sexuelle Gewalt umfassen kann²

 

Häusliche Gewalt findet oft hinter geschlossenen Türen statt und endet oft in der Psychiatrie

Bild: Karuka @ depositphotos.com

WIE? METHODE

Screening – ein kurzes Interview – zur Erfassung sowohl der Lebenszeit- als auch der 12-Monats-Prävalenz häuslicher Gewalt. Stichprobe: Patientinnen einer Krisenstation in einer Schweizer Psychiatrie.

Diejenigen Frauen, die zum Zeitpunkt der Befragung in einer Partnerschaft lebten, füllten zusätzlich einen Fragebogen aus, der Ausmaß und Schweregrad von physischer, psychischer und sexueller Partnerschaftsgewalt erfasst.

[Anlässlich der wissenschaftlichen Qualität (nicht vorhanden) einer kürzlich veröffentlichten Studie (nicht wirklich) sei auf die frühere Selbstverständlichkeit hingewiesen, dass die eingesetzten Instrumente wissenschaftlichen Standards genügen].

 

WER? TEILNEHMERINNEN: Psychiatrie-Patientinnen

Befragt werden sollten alle Frauen, die mindestens einen Tag in der Krisenintervention der Psychiatrie in Basel hospitalisiert waren und ausreichend Deutsch sprachen. ca. 50% der Patientinnen nahmen teil. Gründe für Nichtteilnahme: Fremdsprachigkeit 19 %, Verweigerung 15 % und Unmöglichkeit (Zustand oder Aufenthalt in der Psychiatrie zu kurz). Stichprobengröße: 115 Frauen.

Kurzes Meet and Stare:

  • Durchschnittsalter 38 Jahre.
  • Personenstand: die Hälfte ist alleinstehend, ein Drittel seit mindestens 12 Monaten. Ein Viertel ist verheiratet, ein Fünftel geschieden oder getrenntlebend.
  • Grund für Psychiatrie-Aufenthalt: Platz 1: affektive Störungen (vulgo: Depressionen). Platz 2: neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen; also Angststörungen, Störungen infolge kritischer Lebensereignisse/-umstände und psychisch bedingte körperliche Krankheiten.

 

 

Frisch aus der Anstalt: Zahlen aus der Psychiatrie

HÄUFIGKEITEN HÄUSLICHER GEWALT

Zwei freundliche Hinweise:

  1. Legen Sie eine Hand unter Ihr Kinn.
  2. Ihre Mimik von heute ist Ihr Gesicht von morgen.

You have been warned.

 

  • A: aktuelle Studie: Frauen in der Psychiatrie
  • B: Gesamtbevölkerung
  • C: klinische Stichprobe
A
B
C

Lebenszeitprävalenz

70%

10-35% (Schröttle-Studie)

12-Monatsprävalenz

41%

2%

bis 14%

 

Psychiatrie. Das Elend in Worten.

  • mehr als zwei Drittel der – im Durchschnitt 38jährigen – Teilnehmerinnen hatten bereits körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Partner bzw. ex-Partner erfahren.
  • über ein Drittel der Teilnehmerinnen war in den vergangenen 12 Monaten Opfer häuslicher Gewalt.

psychische Gewalt: 28%

körperliche Gewalt: 18%

sexualisierte Gewalt: 7%

  • [Die Differenz zu den o.g. 41% ergibt sich dadurch, dass min. eine der fünf Screening-Fragen mit Ja beantwortet wurde, darunter auch die Frage, ob die Teilnehmerin ihren derzeitigen oder ehemaligen Partner fürchtet].
  • Bei 11% der Befragten war häusliche Gewalt einer der Gründe für den stationären Aufenthalt in der Psychiatrie. 19% gaben an aufgrund häuslicher Gewalt in der Vergangenheit stationär behandelt worden zu sein.

 

HONEY, I’M HOME: BEZIEHUNGSLEBEN nach der Psychiatrie

38% der aktuell in einer Partnerschaft lebendenen Teilnehmerinnen täten gut daran, einen wirkungsvollen „Dear John“ (Schluss-Mach-Brief) zu verfassen: gemäß ihres ISA-Wertes sind sie eindeutig als gewaltbetroffen einzuordnen:

  • 32% werden vor anderen Menschen beleidigt oder gedemütigt.
  • 23% erleben sexuelle Gewalt: Täter verlangt Sex, auch gegen den Willen der Frau.
  • 19% werden mit Fäusten geschlagen.
  • 19% werden ins Gesicht oder am Kopf geschlagen.
  • 15% der Täter vermitteln durch ihr Verhalten Tötungsabsichten.

 

Häusliche Gewalt ist ein häufiges Problem bei Patientinnen einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation. Im Bereich der Krisenintervention und Psychiatrie sollten Patientinnen zu häuslicher Gewalt befragt werden. Das kurze „Screening Partnerschaftsgewalt“ (SPG) hat sich als geeignet zur Erkennung häuslicher Gewalt erwiesen

Take Home Message. Bild: Fortschritte der Neurologie · Psychiatrie

TYL – TODAY YOU LEARNED:

„Häusliche Gewalt ist ein häufiges Problem bei Patientinnen einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation. Im Bereich der Krisenintervention und Psychiatrie sollten Patientinnen zu häuslicher Gewalt befragt werden.“

on second thought:

Häusliche Gewalt ist ein häufiges großes Problem bei Patientinnen einer psychiatrischen Kriseninterventionsstation. Im Bereich der Krisenintervention und Psychiatrie medizinischen und familienrechtlichen Bereich sollten Patientinnen Frauen standardmäßig zu häuslicher Gewalt befragt werden.

 

Bart Simpson schreibt: Häusliche Gewalt muss immer mit bedacht werden.

mehr Tafeln. mehr Kreide. MEHR WISSEN.

 

MEHR INFOS!

 

1 Nyberg, E.; Stieglitz, R.-D.; Flury, M.; Riecher-Rössler, A. (2013): Häusliche Gewalt bei Frauen einer Kriseninterventionspopulation – Formen der Gewalt und Risikofaktoren. In: Fortschr Neurol Psychiatr 81 (06), S. 331–336, zuletzt geprüft am 23.07.2013.

²(Hagemann-White C. Strategien gegen Gewalt im Geschlechterverhältnis. Bestandsanalyse und Perspektiven. Pfaffenweiler: Centaururs Verlagsgesellschaft; 2002)